Aiki-Jo-Kata (Stabform) - T'ai Chi Ch'uan (Yang-Stil) in Lübeck und klassisches Aikido

Für die Suche nach Wahrheit und Klarheit sind Objektivität und Toleranz erfolgsbestimmende Voraussetzungen. Daher gilt, dass beim Vergleich verschiedener Verteidigungssysteme und Bewegungskünste nicht nach Unterschieden, sondern nach Übereinstimmungen geforscht werden sollte. Oft stellt man schnell fest, dass die Begründer der Wege (jap. Do; chin. Dao) trotz unterschiedlicher Nationalität, Kultur und Religion zu gleichen Erkenntnissen gelangt sind. Ihre Erfahrungen haben sie in den von ihnen geschaffenen Systemen und den damit verbundenen Formen verankert.

Wer den Spuren dieser Meister folgen will, muss ihre tradierten Formen intensiv studieren und versuchen, die darin meist in kodierter oder in abstrakter Weise verborgenen Elemente, Techniken und Prinzipien zu ergründen. Bei entsprechender menschlicher und technischer Reife, sollten sie sich bemühen, ihre Erfahrungen unverfälscht an andere Menschen weiter zu geben, damit die wertvolle Kette der Solidarität nicht unterbrochen wird.

Leider ist festzustellen, dass die klassischen Formen der meisten Systeme immer häufiger durch ungeduldige und überhebliche Wegschüler beziehungsweise aus egoistischen Motiven verändert werden. Oft will man sich durch die persönlichen „Varianten" auf „dem Markt" auch von der vermeintlichen Konkurrenz abgrenzen. Diese verhängnisvolle Entwicklung führt schon seit vielen Jahren zu einem ständig steigenden Angebot, das selbst von Fachleuten nicht mehr überschaubar ist und folglich auch nicht abschließend beurteilt werden kann. Generell gilt aber, dass die zunehmende Zahl der „modernen" Kampfsport- und Verteidigungssysteme die Verbreitung aller Wege einschränkt, die ihren Wert und ihre Wirksamkeit über viele Generationen bewiesen haben. Letztlich bleibt festzustellen, dass die ungesteuerte Vermehrung auch mit einer organisatorischen und verbandlichen Zersplitterung einhergeht, die bedauerlich ist.

Ein Beweis für die einleitend dargelegte Einheit in der Systemvielfalt ist die dem Aikido zugeordnete Jo-Kata. Bei dieser Form der Koordination wird ein Stab als „Waffe" für den Angriff und zur Verteidigung in fließender Folge und in verschiedenen Ebenen um die Körperachse geführt. Da sich der Ausführende gleichzeitig bewegt, beschreibt die Spitze des Stabes (der Lanze) neben den Stößen und Blöcken verwickelte Kreis- und Spiralbewegungen im Raum.

Durch diese Kata sollen im Aikido bedeutende Formen der Bewegung (Sabaki) und die Tegatana (Schwerthand) sowie das Hara (Körperzentrum) ausgebildet, koordiniert und verinnerlicht (automatisiert) werden. Folgerichtig wird diese Kata daher auch als "Form der Koordination" bezeichnet.

Betrachtet man die langsame Ausführung der Jo-Kata, stellt man wesentliche Übereinstimmungen mit Waffenformen des T'ai Chi Ch'uan fest. Hier wie dort ist wichtig, dass der Ausübende die Form (Kata) als eine Methode betrachtet, bei der ein „Gegenstand" in den Bewegungs- und Energiefluss eingebunden wird. Insbesondere bei den Angriffstechniken muss auf eine entsprechende geistige Vorstellung (Fokussierung) verzichtet werden, um eine kämpferische Gesinnung und damit verbundene Aggressionen zu vermeiden, die sowohl dem Aikido als auch dem T'ai Chi Ch'uan fremd sein sollten.

Ich habe meinen Freund und treuen Weggefährten, Herrn Erhard Altenbrandt, 8. Dan Aikido, um eine Demonstration der von seinem Lehrer, Meister Yves Cauhépé, 6. Dan Aikido, konzipierten Jo-Kata gebeten. Er hat dieser Bitte entsprochen und die Genehmigung zur Veröffentlichung an dieser Stelle erteilt. Dafür danke ich ihm sehr herzlich.

Yves Cauhépé (1932 - 1980) war gemeinsam mit seinem Bruder Jean-Daniel einer der ersten Schüler von Meister  André Nocquet, 8. Dan Aikido. Er lebte und wirkte in der Schweiz und hat sich durch die Leitung vieler Lehrgänge auch um die Entwicklung des Aikido in der Bundesrepublik Deutschland verdient gemacht.

Weitere interessante Ausführungen zur Historie der  Aiki-no-Kata  sowie zur Methodik des Kata-Unterrichts im Aikido, die sich bezüglich vieler  Inhalte, Zielsetzungen und Unterrichtsschwerpunkte auf die Hand- und Waffenformen des T'ai Chi Ch'uan übertragen lassen, können unter den vorstehenden Links abgerufen werden.

© Rolf Brand, 8. Dan Aikido
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