Bewegungsformen - T'ai Chi Ch'uan (Yang-Stil) in Lübeck und klassisches Aikido

Direkt zum Seiteninhalt

Hauptmenü:

Bewegungsformen

Aikido > Aikido-Lehrbuch

4.6

Sabaki (Formen der Bewegung)

 

Gäbe es die Bewegung nicht, würde das Universum in sich
zusammenstürzen. Bewegung ist aber nicht nur ein
»göttlicher Baustein der Welt«, sondern auch eine
wesentliche Ausdrucksform des Lebens und ein Symbol der
Freiheit. Man sollte daher jeden Tag ein Stück auf dem
Weg voranschreiten.

4.6.1

Allgemeine Voraussetzungen

 

Nach allgemeiner Auffassung ist ein Mensch beweglich, der im körperlichen Bereich seinen Standort und im geistigen Sinne seinen Standpunkt aus freiem Willen zu ändern vermag, wenn die jeweilige Situation dies erfordert.
Zwischen dem Angreifer und dem Verteidiger besteht ein polarisiertes Spannungsfeld. Der Wille und die von ihm getragenen Handlungen gehen von einem Menschen aus und sind – in der Angriffssituation – gegen einen anderen Menschen gerichtet. Der Angreifer kann seine Absichten jedoch nur mit körperlichen oder technischen Mitteln realisieren; sie unterliegen den physikalischen Gesetzmäßigkeiten, sind also auch an Raum und Zeit gebunden.
Der zwischen den Menschen bestehende und von ihnen auch angestrebte körperliche (geistige) Abstand lässt einen direkten Angriff in der Regel nicht zu. Ein zur Tat entschlossener Angreifer muss sich daher bewegen und eine für ihn zweckmäßige Distanz einnehmen.
Der Verteidiger besitzt in dieser Phase der Auseinandersetzung meistens jedoch noch die Freiheit der Entscheidung. Er kann dem Angriff durch eine entschlossene Aktion begegnen (Irimi) oder durch geschickte Ausweichbewegung eine für ihn günstigere Position einnehmen (Tenkan) oder den schützenden Abstand (Ma-ai) erneut herstellen. Unabdingbare Voraussetzung zur Durchführung wirksamer Abwehrmaßnahmen ist also in jedem Fall die Bewegung des Körpers.
Unter einer aikidogemäßen Bewegung (Sabaki) versteht man eine Ortsveränderung des Körperzentrums (Hara) relativ zum Boden in horizontaler Richtung. Das vom Körperschwerpunkt auf die Matte gefällte Lot würde sich dabei geradlinig oder auf Kurvenbahnen bewegen.
Der vom bewegten Körper des Verteidigers ausgehende Impuls wird erforderlichenfalls über die aus der Mitte (Hara) geführte Schwerthand (Tegatana) auf den Angreifer übertragen und zur Störung seines Gleichgewichtes oder zur Beeinflussung seiner Bewegung genutzt. Wenn die Stärke und Wirkungsrichtung dieses Impulses intuitiv richtig aufeinander abgestimmt und im günstigen Augenblick am zweckmäßigen Ansatzpunkt zur Geltung gebracht wurden, hat der Verteidiger seine Möglichkeiten optimal genutzt.
Die Bewegungen des Körpers sind aber auch ein Ausdrucksmittel, das bestimmte geistig-seelische Zustände verdeutlichen kann und die körperliche Präsenz erkennen lässt. Dadurch werden zumindest unentschlossene Angreifer von der Realisierung ihrer Absichten abgehalten.
Die Erhaltung des statischen und dynamischen Gleichgewichtes ist in hohem Maße von der korrekten Bewegung abhängig. Nur wenn sich der Verteidiger in jeder Aktions- oder Ruhephase in der »rechten Mitte« befindet, stehen ihm alle inneren Energien und äußeren Kräfte zur Verfügung, die er benötigt, um einen fremden Partner nach eigenem Willen führen zu können. Alle Ausübenden sollten sich daher den Merksatz »Aikido ist Bewegung!« einprägen.
Schaut man zwei geübten Aikidoka bei ihrem »Spiel mit den Kräften« zu, so entsteht unmittelbar nach dem ersten Kontakt zwischen Angreifer und Verteidiger der Eindruck, als seien die Körper durch eine unsichtbare Kraft so miteinander verbunden, dass sie die folgenden Bewegungen gemeinsam ausführen müssen.
In Wirklichkeit hat der Verteidiger jedoch die kraftvollen Attacken des Angreifers, geschmeidig und harmonisch ergänzt, weitergeführt, umgelenkt und schließlich gegen ihn selbst gerichtet oder neutralisiert, indem er seinen Körper als Drehachse im Zentrum der wirkenden Kräfte platziert oder die bei der Bewegung freiwerdende Energie zweckmäßig eingesetzt hat.
Der Sturz des Angreifers erscheint daher nicht als ein durch äußere Einflüsse gewaltsam herbeigeführtes Ereignis. Man gewinnt vielmehr den Eindruck, als hätten sich die Aggression und die Bösartigkeit wie selbstverständlich gegen ihren Initiator gerichtet, während dem Verteidiger nur die Aufgabe eines Katalysators zukam, der den Prozess der Neutralisierung der Angriffsenergie allein durch seine Anwesenheit ausgelöst hat. Im Training muss man sich zunächst auf die nachfolgend beschriebenen Grundformen beschränken, bei denen das Körperzentrum stets im gleichen Abstand, also parallel zur Mattenoberfläche bewegt wird. Dabei gleiten die Füße gleichsam tastend über den Boden; der Körperschwerpunkt befindet sich immer über der von den Füßen nach außen begrenzten Standfläche.
Diese bei den Gleitschritten (Ashi-sabaki) und Körperdrehungen (Tai-sabaki) gleichermaßen zu beachtenden Grundsätze erlauben es dem Ausübenden, seine Bewegungen zu variieren, in jeder Phase sicher zu verharren, die Bewegungsrichtung oder -geschwindigkeit zu ändern und das den Partner ergänzende Prinzip anzuwenden.
Bei Ausführung der verschiedenen Stand- und Bodentechniken bewegt der Aikidoka sein Körperzentrum dann auch in vertikaler Richtung. Da sich beide Grundformen überlagern, bewegt es sich in verschiedenen Ebenen auf spiralförmigen Kurvenbahnen.
Es sollte niemals vergessen werden, dass der Angreifer im Ernstfall das Gesetz des Handelns auf seiner Seite hat. Er kann die Aktion geistig planen, psychologisch vorbereiten und Ort sowie Zeitpunkt der Ausführung wählen.
Da Angriffstechniken dem Wesen des Aikido widersprechen, kann und darf der Verteidiger nur auf bereits eingeleitete Aktionen reagieren, was neben Intuition, Selbstbeherrschung und innerer Stärke auch entsprechende körperliche Voraussetzungen und Fertigkeiten erfordert. Dazu gehören in erster Linie die von der geistigen und körperlichen Gelöstheit getragenen, kultivierten und situationsgerechten Bewegungen. Sie ermöglichen es dem Verteidiger, auch überraschenden und entschlossen vorgetragenen Angriffen mit Erfolg zu begegnen.
Beim Training der nachfolgend beschriebenen Grundformen des Sabaki muss sich der Aikidoka zunächst geistig-seelisch »entleeren« und zum Ursprung zurückkehren wollen. Dies ist nur möglich, wenn er auf die Anwendung seiner bisherigen Erfahrungen verzichtet und gleichsam wieder zum Kind wird, das sich vorbehaltlos öffnet und alle über den Körper erfahrenen neuen Eindrücke aufnimmt. Möchte der Ausübende hingegen seinen »Erfahrungsschatz« bewahren oder durch Sammeln neuer Erkenntnisse vergrößern, wird er bald verzweifeln.
Absichtsloses und doch ernsthaftes Bemühen des Aikidoka lässt auf eine positive innere Einstellung schließen; die ausgewogene Körperhaltung ist Ausdruck der Harmonie zwischen Geist und Körper. Werden die Übungen ohne innere Anteilnahme – nur mechanisch – vollzogen, bleibt der gewünschte Erfolg aus!

4.6.2

Beschreibung der Formen

 

Ayumi-ashi (Fußgehen)
Diese aikidospezifische Form des Gehens wird als geradliniger Eingang bei vielen Stand- und Bodentechniken benötigt.
Der Übende nimmt die natürliche Grundstellung (Shizentai) ein (Abb. 42) und schiebt seinen etwas schräg nach außen gestellten Fuß unter ständigem Bodenkontakt bogenförmig in die Bewegungsrichtung (Abb. 43). Nach Erreichen der Endstellung folgt der linke Fuß in gleicher Weise (Abb. 44-46).
Es ist besonders darauf zu achten, dass die Bewegung gleichförmig ist und mit schiebender Wirkung aus der Körpermitte erfolgt. Diese muss sich ständig in einer Ebene parallel zum Boden bewegen. Der Körper soll bei tiefem Schwerpunkt aufrecht und gelöst sein; das Pendeln der Schultern ist zu vermeiden.


Noch zu 4.6.2

Ayumi-ashi
(Fußgehen)








Ein Klick auf die
Miniatur vergrößert
das ausgewählte Bild!


Bilder 42-46

 

Tsugi-ashi (Fußgleiten)
Der Übende begibt sich in die Rechtsstellung (Migi-Kamae) und setzt seine Schwerthand (Tegatana) im oberen Bereich (Jodan) ein. Er schiebt den vorderen Fuß ohne Aufgabe des Gleichgewichtes unter ständigem Bodenkontakt in die Bewegungsrichtung (Abb. 47). Unmittelbar nach dem Erreichen der Endstellung – knapp doppelte Schulterbreite – wird der annähernd quer gestellte hintere Fuß nachgeführt (Abb. 48). Die nächsten Gleitschritte schließen sich wie beschrieben unmittelbar an (Abb. 49–51).
Die Bewegung soll gleichförmig und mit starkem Einsatz des Zentrums (Hara) erfolgen. Mit zunehmender Übung kann die Geschwindigkeit gesteigert werden, jedoch ist darauf zu achten, dass sich die Körpermitte in einer Ebene parallel zum Boden bewegt. Die Atmung soll unabhängig von der Schrittgeschwindigkeit im normalen Rhythmus erfolgen.
Das Fußgleiten ist von Beginn an beidseitig (Migi- und Hidari-Kamae) sowie nach vorn und rückwärts zu üben. Die Schwerthand kann später zur Abwehr verschiedener Angriffe in wechselnden Bereichen (Jodan, Chudan und Gedan) eingesetzt werden.
Fortgeschrittene Aikidoka sollten die Bewegung paarweise mit wechselnder Rolle (Angreifer und Verteidiger) ausführen, indem sie sich mit gekreuzten Schwerthänden gegenüber aufstellen und versuchen, die korrekte Distanz (Ma-ai) im freien Spiel der Bewegungen zu bewahren.


Noch zu 4.6.2

Ayumi-ashi
(Fußgleiten)








Ein Klick auf die
Miniatur vergrößert
das ausgewählte Bild!


Bilder 47-51

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

4.6.2

Beschreibung der Formen

 

Tenkan-ashi (Schrittdrehung)
Die Schrittdrehung ist für alle äußeren Ausweichbewegungen, bei manchen Eingängen und beim freien Angreifen (Jiyu-Waza) von großer Bedeutung. Der Ausübende wendet unter Beibehaltung seiner Stellung (Migi- bzw. Hidari-Kamae) auf dem vorderen Fußballen um 180 Grad und bewegt sein Körperzentrum dabei halbkreisförmig um etwa eine Schulterbreite rückwärts oder nach vorn.

Schrittdrehung nach rückwärts
Der Übende nimmt die Rechtsstellung (Migi-Kamae) ein (Abb. 52) und wendet die im oberen Bereich (Jodan) gehaltene Schwerthand (Tegatana) so, dass die Fingerspitzen der im Gelenk gebeugten Hand auf das Körperzentrum zeigen. Sodann schiebt er seine Mitte in Richtung auf den vorderen Drehpunkt- lotrechte Achse über dem vorderen Fußballen – und schwingt die hintere (linke) Körperseite ohne Unterbrechung um 180 Grad nach rückwärts (Abb. 53, 54). Dabei wird die Schwerthand in einer vertikalen Ebene nach unten, an der Hüfte vorbei und anschließend wieder in die Ausgangsstellung (Jodan) gebracht. Der linke Fuß hatte ständigen Kontakt mit dem Boden und beschrieb einen Halbkreis um den Drehpunkt (vorderer Fußballen!).
In der Endstellung verlagert der Übende sein Gewicht wieder gleichmäßig auf beide Füße und nimmt eine korrekte Rechtsstellung (Migi-Kamae) ein (Abb. 55, 56).
Das Einatmen muss im Einklang mit der Bewegung erfolgen, während das Ausatmen nach vollendeter Schrittdrehung lang gezogen und hörbar vorgenommen wird. Der Übende muss sich dabei vorstellen, dass seine Atemkraft an der Schwerthandunterseite entlang und gerichtet in den endlosen Raum fließt.
Die Schrittdrehung ist in Serien und beidseitig zu üben. Sie wird weitergeführt als Atemkraftübung mit dem Partner (siehe Abschnitt 5.3).

Schrittdrehung nach vorn
Diese den Abstand (Ma-ai) stark verkürzende, also »eintretende« Bewegungsform ist in den Abbildungen 57–61 dargestellt. Im Gegensatz zur Schrittdrehung nach rückwärts wird der hintere Fuß hier halbkreisförmig nach vorn um den Drehpunkt geführt. Alle bei der Schrittdrehung nach rückwärts zu beachtenden Grundsätze gelten auch hier.


Noch zu 4.6.2

Tenkan-ashi
(Schrittdrehung nach rückwärts)








Ein Klick auf die
Miniatur vergrößert
das ausgewählte Bild!


Bilder 52-56


Noch zu 4.6.2

Irimi-ashi
(Schrittdrehung nach vorn)








Ein Klick auf die
Miniatur vergrößert
das ausgewählte Bild!

Bilder 57-61

4.6.2

Beschreibung der Formen

 

Tai-sabaki (Körperbewegung/Doppelschrittdrehung)
Diese Bewegungsübung enthält ständige Richtungswechsel und erbringt einen großen Raumgewinn; sie dient der Ausbildung des statischen und dynamischen Gleichgewichts. Dem Aikidoka wird ein sicheres Gefühl für das eigene – bewegte – Körperzentrum vermittelt. Die Doppelschrittdrehung sollte daher in keiner Übungsstunde der Schüler und Meister fehlen.
Der Übende nimmt die Linksstellung (Hidari-Kamae) ein (Abb. 62), verlagert sein Körperzentrum etwas nach vorn (Abb. 63) und führt den hinteren - rechten – Fuß halbkreisförmig nach vorn (Abb. 64). Unmittelbar nach dem Absetzen schließt sich eine Schrittdrehung nach rückwärts an (Abb. 65), bis die Rechtsstellung (Migi-Kamae) eingenommen ist (Abb. 66). Anschließend wird die gleiche Bewegung zur anderen Seite wiederholt (Abb. 67–72).
Es ist darauf zu achten, dass der gesamte Körper die weiträumige, schwingende Drehung harmonisch und in gutem Gleichgewicht ausführt. Die Arme dürfen zunächst locker am Körper pendeln. Später sollten die Schwerthände jedoch korrekt in verschiedenen Bereichen (Jodan, Chudan und Gedan) geführt und eingesetzt werden.
Die Atmung muss mit dem Rhythmus der Bewegung übereinstimmen. Das Einatmen erfolgt also im Verlauf der ersten und das Ausatmen während der zweiten Doppelschrittdrehung. Es ist nach Wiedereinnahme der Ausgangsstellung (Hidari-Kamae) noch hörbar fortzusetzen. Die unter »Schrittdrehung nach rückwärts« gegebenen Hinweise gelten uneingeschränkt.
Bei der Doppelschrittdrehung sind großer Raumgewinn und gute Balance anzustreben. Die Füße werden halbkreisförmig geführt und müssen ständigen Kontakt zum Boden haben. Das Körperzentrum bewegt sich in einer Ebene; geradlinige und hüpfende Schritte sollen vermieden werden.


Noch zu 4.6.2

Tai-sabaki
(Körperbewegung/Doppelschrittdrehung)








Ein Klick auf die
Miniatur vergrößert
das ausgewählte Bild!


Bilder 62-72

Zurück zum Inhaltsverzeichnis

4.6.3

Zusammenfassung

 

Bewegung ist ein unverzichtbares und wichtiges Element im Aikido, das die Wirksamkeit aller Techniken wesentlich beeinflusst. Die Formen des Sabaki müssen daher besonders sorgfältig und ausdauernd geübt werden.
Alle Bewegungen und Drehungen sollen ohne »Ankündigung« explosiv aus der Körpermitte erfolgen. Sie werden beim Training der Techniken und besonderen Übungsformen miteinander kombiniert, um

  • einem starken Angriff auszuweichen (Tenkan),

  • in den Wirkraum des Angreifers einzutreten (Irimi),

  • die korrekte Distanz (Ma-ai) herzustellen,

  • das Zentrum der wirkenden Kräfte zu gewinnen und

  • den Partner sicher zu führen.

Es wird nochmals daran erinnert, dass der Angreifer hinsichtlich seiner Bewegungen ungebunden ist, während der Verteidiger ständig bemüht sein muss, eine gute Distanz (Ma-ai) herzustellen. Das hierzu erforderliche Reaktionsvermögen wird durch Bewegungsübungen mit dem Partner und beim Training aller Techniken ausgebildet.

4.7

Ki (geistige Kraft) und Kokyu (Atemkraft)

 

Alles war, ist und wird wieder Ki!


Beim Vergleich der Schöpfungsgeschichten verschiedener Kulturen findet man am Anfang meist eine geistige Urkraft oder Energie. Sie trägt zwar verschiedene Namen, ist aber immer Ausdruck eines höheren Ordnungsprinzips oder göttlichen Willens. Seit Anbeginn erzeugt und bewahrt sie das Leben, bewegt den Kosmos und manifestiert sich in allen Dingen. Ohne sie gäbe es keine Harmonie oder Evolution.
Diese ordnende und wirkende Kraft wird in Japan »Ki« genannt. Man geht davon aus, dass sie geistigen Ursprungs ist, jedoch in verschiedenen Zuständen und in aktiver oder latenter Form auftreten kann. Ki ist als »Weltseele« überall vorhanden und doch nicht greifbar. Jeder Mensch ist von Ki erfüllt, die zum Beispiel als Lebensenergie und -freude, Willenskraft oder Schaffensdrang in ihm wirkt und sich in seinen geistigen und körperlichen Aktivitäten äußert.
Ziel des Aikido ist es unter anderem, in Harmonie (Ai) mit der geistigen Kraft (Ki) zu gelangen, damit sie entwickelt und sinnvoll genutzt werden kann. Entsprechend dem Wesen des Weges (Do) ist dies nur über die körperliche Übung möglich.
Nach Auffassung der Meister wird Ki beim Atmen aufgenommen und wieder abgegeben. Sie kann aber auch von einem Menschen auf den anderen übertragen werden. Dies ist durch die »Kraft der Persönlichkeit« (geistige Zustandsform) ebenso möglich wie durch die konzentrierte und gelenkte Atemkraft (vorübergehende körperliche Zustandsform).
Im täglichen Leben und in der Verteidigung soll der Mensch seine Ki koordiniert einsetzen. Diese Forderung ist immer erfüllt, wenn Körper, Geist und Seele eine harmonische Einheit bilden.
Die durch Atemkraft (Kokyu) konkretisierte geistig-seelische Kraft (Ki) wird bei Ausführung aller Aikidotechniken materialisiert. Von ihr hängt der Erfolg bei der Anwendung dieser Techniken ab.
Wendet Nage zur »Entleerung« eines starken Angreifers das Tenkan-Prinzip an, muss er Ukes Ki beim einatmen aufnehmen. Lässt das vorher geschaffene oder bestehende »Vakuum« hingegen die Anwendung des Irimi-Prinzips zu, füllt Nage den Angreifer beim Ausatmen mit seiner Ki. In beiden Fällen fließt sie - wenn auch in verschiedenen Richtungen – über die Schwerthände oder Angriffspunkte zwischen den Partnern, wenn die harmonische Distanz (Ma-ai) vorhanden ist.
Durch die Nutzung der vom stabilen Körperzentrum ausgehenden Atemkraft können auch physisch schwächere oder ältere Aikidoka Wirkungen erzielen, die sich mit Muskelkraft niemals erreichen ließen.
Dem gehetzten modernen Menschen »geht häufig die Luft aus«. Sicher wird die beruhigende, kräftigende und reinigende Wirkung des richtigen Atmens von ihm ebenso anerkannt wie sein Wert für die Gesundheit und das Wohlbefinden. Er nimmt sich jedoch nicht die Zeit, diese Erkenntnisse und Lehren umzusetzen. Im Zusammenhang mit dem Studium des Aikido übt sich jeder Praktikant auch in der Beherrschung dieser lebenswichtigen Kunst. Ein »langer Atem und ruhiges Blut in allen Lebenslagen« sind wertvolle Geschenke für seine Mühe.
Ausbildung und Anwendung der Atemkraft (Kokyu) stehen im engen Zusammenhang mit dem Körperzentrum (Hara). Sie erfolgen sowohl im Rahmen des allgemeinen Trainings als auch durch gezielte Übungen (Kokyu-ho) oder spezielle Techniken (Kokyu-Nage). Unter diesen Begriffen versteht man die Kunst, andere Menschen durch Atemkraft zu führen bzw. zu werfen.
Der in vielen Budo-Sportarten beim Angriff zur Atemsteuerung verwendete Kampfschrei (Kiai) - Ausdruck des aktiven Einsatzes aller geistigen und körperlichen Energien zur endgültigen Ausschaltung des Angreifers – wird beim Aikido nicht besonders trainiert. Diese Zielsetzung ist im Aikido nicht vorgesehen und nur in lebensgefährlichen Ausnahmesituationen zulässig. Wird bei der Abwehr solcher Angriffe mit Waffen ein Kiai angewendet, muss er im Höhepunkt der Technik bei optimaler Entfaltung der Ki und geistiger Konzentration auf Uke ausgestoßen werden. Er soll die Einheit von Körper und Geist des Verteidigers sowie seine absolute Bereitschaft deutlich machen.
Nachfolgend wird eine im Kniesitz ausgeführte Atemkraftübung beschrieben:

Kokyu-ho aus Za-ho
Beide Partner begeben sich in den Kniesitz (siehe Abschnitt 4.1), wobei die harmonische Distanz (siehe Abschnitt 4.3) hergestellt sein muss (Abb. 73).
Uke erfasst Nages Handgelenke von oben. Nage spreizt die Fingerspitzen und schwingt seine beiden Schwerthände (Tegatana) unmittelbar nach Ausführung des »Angriffs« locker aus den Schultern aufwärts. Der Abstand zwischen den Händen soll etwas größer sein als die Breite der Schultern. Bei dieser Bewegung atmet Nage lang gezogen aus. Er muss sich vorstellen, dass seine vom entspannten Zentrum (Hara) ausgehende Atemkraft durch den Körper und die kanalisierenden Schwerthände in den Raum fließt. Die gespreizten Finger bewirken ihre Verdichtung. So bleibt die gesamte Muskulatur der Schultern und Arme entspannt (Abb. 74).
Verliert Uke sein Gleichgewicht, kann er durch den verstärkten Einsatz des nach vorn bewegten Körperzentrums sowie eine damit verbundene Richtungsänderung der Schwerthände (Tegatana) zur Seite abgeworfen werden. Nage sollte die tiefe Lage seines Körperzentrums in dieser Phase jedoch noch nicht aufgeben (Abb. 75).
Nage folgt der Bewegung des fallenden Uke durch eine Drehung auf den Knien und »nagelt« ihn mit beiden Schwerthänden am Boden fest (Abb. 76, 77).
Fortgeschrittene Aikidoka können diese Übung auch unter erschwerten Bedingungen ausführen, indem sie den Angriff »Katate-Ryote-tori« (Zwei Hände fassen ein Handgelenk) zulassen (Abb. 78-82).
Die Atemkraftübungen sind in beidseitiger Ausführung mehrmals zu wiederholen.


Zu 4.7

Angriff:
Ryote-tori

Abwehr:
Kokyu-ho aus Za-ho





Ein Klick auf die
Miniatur vergrößert
das ausgewählte Bild!

Bilder 73-77


Zu 4.7

Angriff:
Katate-ryote-tori

Abwehr:
Kokyu-ho aus Za-ho





Ein Klick auf die
Miniatur vergrößert
das ausgewählte Bild!

Bilder 78-82

Zurück zum Seiteninhalt | Zurück zum Hauptmenü