Entwicklung/Grundlagen - T'ai Chi Ch'uan (Yang-Stil) in Lübeck und klassisches Aikido

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Entwicklung/Grundlagen

Aikido > Aikido-Lehrbuch

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Historische Entwicklung und geistige Grundlagen des Aikido

 




Um die höchste Wahrheit zu finden, musst du dich unaufhörlich
und mit ganzem Herzen um Aufrichtigkeit bemühen!
O Sensei Morihei Ueshiba,
Begründer des Aikido

2.1

O Sensei Morihei Ueshiba und sein Aikido

 

In vielen Ländern werden die Lehre und die Technik des Aikido noch durch Meister verbreitet, die unmittelbare Schüler des Begründers waren. Aber auch ihre Schüler und ebenso deren Schüler wirken bereits als Lehrer.
Es ist folglich eine Kette menschlicher Solidarität entstanden, deren Glieder durch die im Aikido wirkenden Kräfte miteinander verbunden sind. Über das Leben des einzelnen hinaus beständig, wurde das Aikido so zu einer sich weiter potenzierenden und für immer mehr Menschen förderlichen Kraft.
Der Ursprung dieses wertvollen Weges liegt allein in der Person und dem Wirken des Morihei Ueshiba begründet. Er gilt für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Lehrer aller Aikidoka und wird von ihnen respektvoll »O Sensei« (Großer Lehrer) genannt.
Die geistigen Dimensionen und moralischen Qualitäten dieses herausragenden Menschen sowie die philosophische Tiefe und praktische Bedeutung seines Weges der Liebe und des Friedens wurden durch seinen dankbaren Schüler André Nocquet in dem Buch »Der Weg des Aikido – Gegenwart und Botschaft von O Sensei Morihei Ueshiba« eindrucksvoll aufgezeigt. Das reich bebilderte Werk ist ein authentisches Dokument von großem Wert und sollte von allen Aikidoka aufmerksam studiert werden.
O Sensei Morihei Ueshiba wurde am 14. Dezember 1883 in Tanabe, Präfektur Wakayama, Japan, geboren. Er entstammt einer angesehenen Samuraifamilie, deren Geschichte sich bis in das 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt.
Traditionsgemäß erfolgte seine Erziehung von Kindheit an im Geiste des Buddhismus und nach den Regeln des Bushido (Weg des Kriegers). Dieser Ehrenkodex der japanischen Ritter (Samurai) bestand aus einer von berühmten Kriegern aufgestellten und ständig ergänzten Sammlung von Moralgesetzen und Lebensregeln. Ihre Vermittlung war unlösbar verbunden mit dem Erlernen einer Kampfkunst (Bu-Jitsu) und der dabei begründeten Schüler-Lehrer-Beziehung, denn auch die Tugenden des Ritters - Ehre, Treue, Vaterlandsliebe, Mut, Güte, Rechtschaffenheit, Selbstbeherrschung, Bedürfnislosigkeit – sollten vielmehr intuitiv begriffen und praktiziert als rational verstanden werden.
Die oft handgreiflichen Aktionen der politischen Gegner seines Vaters weckten und verstärkten beim heranwachsenden Morihei Ueshiba den Willen, ein Meister der Kampfkünste zu werden. Neben der Kaufmannslehre unterzog er sich im Alter von 18 Jahren einem strengen körperlichen Training und realisierte seine Absicht auch in den folgenden Jahren trotz schwieriger Lebensumstände sowie krankheits- und kriegsbedingter Unterbrechungen zielstrebig. Unter Anleitung berühmter Lehrer studierte er verschiedene Stilrichtungen des Jiu-Jitsu und der Schwertkunst.
Einem Aufruf der Regierung folgend begab sich Morihei Ueshiba im Jahre 1910 zur Landerschließung nach Hokkaido. Durch seine vorbildliche Haltung und überragenden Leistungen für die Gemeinschaft nahm er schon bald eine führende Stellung ein und wurde von den Siedlern »König von Shirataki« – einer Provinz auf Hokkaido – genannt. Im Jahre 1911 fand eine für die spätere technische Entwicklung des Aikido bedeutende Begegnung mit Meister Sokaku Takeda statt. Er war der maßgebliche Lehrer der seit dem 11. Jahrhundert in geheimen Schulen praktizierten Daito-Methode (Daito-Ryu), aus der sich später das Aiki-Jitsu entwickelte.
Diese Variante des Jiu-Jitsu war den anderen Stilrichtungen überlegen, da der gesamte Körper als Waffe ausgebildet und im Rahmen von Wurf-, Schlag(Stoß-) und Hebeltechniken eingesetzt wurde. Das Aiki-Jitsu enthielt schon damals viele Elemente aus der Schwertkunst (Ken-Jitsu) sowie wirksame Verfahren zur Gleichgewichtsbrechung (Kuzushi) und Ausschaltung des Gegners (Atemi). Besonderer Wert wurde auf die Koordination (Ai) der körperlichen und geistig-seelischen Energie (Ki) gelegt.
Die Vermittlung des Aiki-Jitsu erfolgte nur an wenige, besonders ausgewählte Schüler. Morihei Ueshiba wurde von Meister Takeda wegen seiner Begabung und erkennbaren Leistungsbereitschaft aufgenommen und unterwarf sich dem harten Training sowie den Forderungen des strengen Lehrers bedingungslos. Das Studium schloss er 1916 mit einem Diplom seines Meisters ab. Eine durch die schwere Krankheit seines Vaters bedingte Reise führte Morihei Ueshiba im Frühjahr 1918 mit dem Begründer der neuen Omotokyo-Religion, Reverend Wanisaburo Deguchi, zusammen.
Dessen Botschaft – Frieden und Harmonie auf Erden können nur über die Liebe, Toleranz und Güte der Menschen verwirklicht werden – faszinierte den bis dahin auf die technische Perfektionierung der Kampfkünste fixierten und ständig nach neuen Einsichten forschenden Morihei Ueshiba so nachhaltig, dass er im Jahre 1919 nach Ayabe, dem Zentrum der Omotokyo-Sekte, umzog.
Das harte körperliche Training wurde von diesem Zeitpunkt an in verstärktem Maße durch Meditationsübungen in den Bergen ergänzt.
Eine im Frühjahr 1924 angetretene Reise in die Mongolei endete 1925 für Reverend Deguchi und seine Begleiter nach vielen Gefahren in einer mehrmonatigen Gefangenschaft. In den Grenzsituationen bewies Morihei Ueshiba wiederholt seine innere Stärke und Furchtlosigkeit. Durch vorbildliche Haltung bewahrte er die Gruppe vor dem Untergang und ermöglichte so ihre Rückkehr.
Noch im gleichen Jahre kam ihm bei einer Auseinandersetzung plötzlich die Erleuchtung (Satori), dass jede Kampfkunst nur dann wertvoll und unbesiegbar sein kann, wenn sie vom göttlichen Geist der schützenden Liebe und Verantwortung gegenüber allen Lebewesen durchdrungen ist. Das Aikido war entstanden!
Von diesem Zeitpunkt an konzentrierte sich O Sensei Morihei Ueshiba mit ganzer Kraft auf die Entwicklung der Technik des Aikido, um sie der geistigen Lehre anzupassen. Schon bald kamen viele bedeutende Meister anderer Budo-Disziplinen in sein neues Dojo (Übungshalle), um unter seiner Anleitung zu lernen. Durch die Förderung bedeutender Persönlichkeiten und die Unterstützung offizieller Stellen entstanden in Japan schnell weitere Aikido-Zentren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entsendete O Sensei Morihei Ueshiba gute Meister in andere Länder. Die Menschen vieler Nationalitäten, Rassen und Religionen studieren seit dieser Zeit Aikido und erkennen seinen Wert für das Individuum und die Menschheit.
Die geistige Kraft (Ki) des am 26. April 1969 in Tokio verstorbenen Großen Meisters wirkt, solange es Menschen gibt, die das von ihm geschaffene Aikido betreiben und verbreiten.

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2.2

Was ist Aikido?

 

Nur wer Aikido praktiziert, kann
seine ganze Bedeutung erfahren!


Die Frage wird in den folgenden Kapiteln aus verschiedener Sicht sowie im Zusammenhang mit den bedeutenden Komponenten (Ai, Ki und Do) beantwortet, so dass an dieser Stelle eine Zusammenfassung unter Berücksichtigung wesentlicher Aspekte möglich ist.
Aikido ist die Synthese der traditionellen japanischen Künste des Budo (Weg des Ritters) und gilt als geschlossenes sowie wirksames System der Selbstverteidigung gegen unbewaffnete und bewaffnete Angreifer. Es ist aber auch ein in »kodierter Körpersprache« verfasstes Lehrbuch moralischer, philosophischer und erzieherischer Grundsätze sowie eine dynamische Form der Meditation zur Entwicklung oder Regeneration der körperlichen und geistig-seelischen Kräfte des Ausübenden.
Im Unterricht muss der Verteidiger immer auf Aktionen seines Partners reagieren. Alle Angriffe werden durch körpergerechte Techniken und die Anwendung natürlicher Prinzipien zwingend unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit abgewehrt. Durch das langjährige und intensive Studium sowie die damit verbundene geistige Schulung gewinnt der Aikidoka tiefe Einsichten in die Bedeutung des Lebens, seiner Gesetzmäßigkeiten und Wirkungen. Die wertvollen Erfahrungen dringen in sein Unterbewusstsein ein, prägen die innere Haltung und werden fortan intuitiv auf alle Bereiche angewendet. Dabei ist das vordergründige, ego-orientierte und somit hemmende Bewusstsein ausgeschaltet.
Der Aikidoka hat »seine Mitte« gefunden und kann den eigenen Standort bestimmen. Die gesicherte und stabile Ausgangsposition ermöglicht ihm den effektiven Einsatz aller geistigen und körperlichen Kräfte zur Bewältigung der mit dem Leben verbundenen Aufgaben und Probleme. Sie gibt ihm aber auch die Freiheit, sein Verhältnis zu anderen Menschen und zur Natur im Sinne einer harmonischen sowie für beide Seiten förderlichen Partnerschaft zu regeln.
Im Aikido findet man einen Weg (Do) zur Entwicklung der in allen Dingen und Lebewesen wirkenden geistigen Urkraft (Ki), die im festen Willen des Menschen und in seiner starken Persönlichkeit ebenso zum Ausdruck kommt wie im zielstrebigen Handeln.
Der Gewinn an »innerer Substanz« ist höher zu bewerten als die oft angestrebte Optimierung von Angriffs- oder Verteidigungstechniken, denn wer geübt ist und eine starke geistige Kraft (Ki) besitzt, erkennt Konfliktsituationen im Ansatz und kann den Angreifer oder unbeherrschten Partner schon vor der körperlichen oder geistigen Auseinandersetzung lenken. Dies ist ein wesentliches Geheimnis erfolgreicher Lebensführung!
Bei allen Kampfsportarten wird eine künstliche Polarität zwischen zwei oder mehreren Menschen hergestellt und aufrechterhalten, die meist im Widerspruch zu den Empfindungen der Betroffenen steht. Man geht davon aus, dass der Angriff die beste Verteidigung sei, und strebt die möglichst frühzeitige Aktionsunfähigkeit des Gegners an. Sie ist – manchmal nur symbolisch – mit seiner physischen und psychischen Ausschaltung verbunden. Dieses Verfahren fördert gefährliche Aggressionen, die auch Unbeteiligte in ihren Sog ziehen, und führt nicht selten zur Eskalation der Gewalt.
Es ist eigentlich ein Widerspruch in sich, dass die unzähligen »Trainingsformen« des Kampfes von vielen Menschen befürwortet werden, während sie den negativen Auswirkungen entweder fassungslos gegenüberstehen oder mit Abscheu begegnen.
Bei kritischer Betrachtung der Menschheitsgeschichte zwingt sich der Eindruck auf, dass der »Homo sapiens« seine geistigen und kreativen Fähigkeiten immer dann besonders zielstrebig einsetzt, wenn es um die Vernichtung der eigenen Art geht. So ersinnt und schafft er seit Jahrtausenden Waffen, mit denen bei ständig steigender Distanz eine immer verheerendere Wirkung im Ziel erreicht werden kann. Die Entwicklung führte zum »Gleichgewicht des Schreckens« und »Overkill«. Die Mächtigen der Erde können ihre Gegner nicht mehr besiegen, ohne sich selbst zu vernichten. Diese Entwicklung kann nicht human und vernünftig sein!
Das Aikido ist vom Wesen her eine Methode des »Führens durch Ergänzung«. Alle Techniken sind rein defensiv, von praktizierter Menschlichkeit durchdrungen und basieren auf den Gesetzen der natürlichen Harmonie, was die doppelte Bedeutung der japanischen Silbe »Ai« ist.
Folgerichtig wird im Aikido daher jede Form des Kampfes als Mittel zur Prüfung oder Leistungsbewertung kategorisch abgelehnt. Die im unausweichlichen Verteidigungsfall gegensätzlichen Kräfte werden umgelenkt und vereinigt. Das aktive (Irimi) und passive (Tenkan) Handeln zielt immer auf die geistige Kraft (Ki) des Partners und ist so angelegt, dass seine körperliche und geistig-seelische Integrität gewahrt bleibt. So findet sich in der förderlichen Gemeinsamkeit vollendet, was im Gegensatz begann.
Das Verfahren ist Ausdruck einer humanen und von der Verantwortung für den Nächsten getragenen Einstellung. Es fördert die Entwicklung des einzelnen und die friedliche Koexistenz vieler Menschen.
Diesem und dem folgenden Aspekt kommt gegenwärtig eine besondere Bedeutung zu!
Der Mensch wollte sich im Vertrauen auf seine Stärke auch die Erde unterwerfen. In vielen Bereichen ist das ökologische Gleichgewicht nun empfindlich gestört, Rohstoffe und Energieträger werden knapp, durch die Umweltbelastungen sind schwere und zum Teil irreversible Schäden entstanden. Erschrocken sieht sich der Mensch nun den verhängnisvollen Rückwirkungen ausgesetzt.
Das Aikido bietet auch hier Möglichkeiten zur Problemlösung durch Umerziehung, denn der Ausübende muss sich auf seinem Weg (Do) immer in Harmonie (Ai) mit der Natur und ihren Gesetzen befinden. Er erkennt ihre Bedeutung und Nützlichkeit, ändert seine innere Einstellung und handelt verantwortungsbewusster.
Letztlich ist Aikido auch eine interessante und vielseitige Methode zur körperlichen Ertüchtigung, die alle Forderungen nach Beidseitigkeit und Ganzkörperarbeit erfüllt.

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2.3

Lehrer und Schüler

 

Wenn du einen guten Lehrer willst,
dann wähle keinen bequemen!


Alle Ausübenden des Aikido befinden sich, unabhängig von ihrem Grad, auf dem gleichen Weg (Do). Je nach Veranlagung sowie Dauer und Intensität ihrer Ausbildung sind sie jedoch unterschiedlich weit vorangeschritten. Es entsteht somit eine natürliche Hierarchie, in der die Stellung des einzelnen allein aus seinen Erfahrungen und der Kraft seiner Persönlichkeit erwächst.
Die Menschen in den westlichen Ländern neigen dazu, ausschließlich auf die Stärke und Unfehlbarkeit ihrer Ratio zu vertrauen. Sie sind diskutier- und kritikfreudig, häufig auch im Konsumdenken verhaftet. Die Forderung nach widerspruchsloser Nachahmung der vom Lehrer vorgeführten Techniken, die bei der Erforschung des Einfachen über lange Zeit geforderte Ausdauer und das geduldige Warten auf die intuitive Erfahrung verwirren sie. Sie fühlen sich dadurch ihrer lebenslang »bewährten« Mittel beraubt und in der Entwicklung behindert. Die Bindung an einen Lehrer wird als Aufgabe oder zumindest Einschränkung der persönlichen Freiheit empfunden und daher abgelehnt.
So versuchen viele Ausübende zunächst, den Weg des Aiki ohne innere Bindung an einen Lehrer zu gehen. Ist das Interesse auch nach dem Scheitern dieser Bemühungen noch vorhanden, machen sie häufig einen zweiten Fehler. Sie nehmen von jedem verfügbaren Lehrer, was ihnen nützlich erscheint, und fühlen sich keinem verpflichtet. Aikido wird so einfach konsumiert.
Die enge Bindung des Schülers an einen Lehrer ist jedoch aus moralischen, aber auch praktischen Gründen notwendig:

  • Wie bereits festgestellt, ist der Lehrer seinem Schüler auf dem Wege voraus, hat also Erfahrungen sammeln können, die diesem noch verborgen sind. Er kann dem Schüler daher wichtige Orientierungshilfen geben, die ihm zeitraubende und kräftezehrende Irrwege ersparen. Dadurch wird der Schüler in seiner Entwicklung gefördert.

  • Die technischen und geistigen Inhalte des Aikido können nicht verbal vermittelt und rational verstanden werden. Die Unterrichtung erfolgt vielmehr in der »Körpersprache«, wobei der Lehrer als »Bewegungsvorbild« fungiert, das die Übungen in einer perfekten Form darstellt. Der Schüler kann die Inhalte nur stufenweise erfassen und nachvollziehen. Die gleichen Techniken müssen deshalb oft über viele Jahre wiederholt, kontrolliert und verbessert werden.

  • Jeder Lehrer ist den Weg des Aiki selbst gegangen und hat dabei individuelle Erfahrungen gesammelt, die seine Persönlichkeit und Technik geprägt haben. Dies ist für die Entwicklung des Aikido als einer lebendigen Kunst zwar förderlich, für den bindungslosen Schüler jedoch schädlich. Er wird in oft extrem unterschiedlichen »Körpersprachen« unterrichtet, kann einen Soll-Ist-Vergleich nicht mehr vornehmen und verliert die Orientierung. Sicher ist verständlich, dass er sein Ziel überhaupt nicht oder nur mit erheblichen Verzögerungen erreichen kann. Deshalb ist es auch wichtig, dass die in einem Verband tätigen Lehrer nach einheitlichen Kriterien unterrichten und lehren.

  • In der harmonischen Wechselbeziehung zwischen Lehrer und Schüler manifestiert sich auf der einen Seite die Bereitschaft zur selbstlosen Hingabe, auf der anderen die freiwillige Bindung an eine übergeordnete Autorität.

  • Ein guter Lehrer ist auch ein verständnisvoller Freund, der seinen Schülern die Freiheit zur persönlichen Entfaltung und Entwicklung ihres individuellen Stiles lässt. Er wirkt durch sein gutes Beispiel, fördert ihre äußere und innere Stabilität, stimmt die Fortschritte im technischen und geistig-seelischen Bereich aufeinander ab und gibt – bei entsprechender Erfahrung und Reife – wertvolle Lebenshilfen. Die notwendigen Dialoge werden »vom Herz zum Herzen« geführt, so dass auch Bildungs- und Sprachbarrieren bedeutungslos sind.

  • Die freiwillig übernommene und pflichtbewusst ausgeführte Aufgabe fördert auch den Lehrer, denn er muss die bereits ins Unterbewusstsein eingegangenen Techniken analysieren und aufbereiten, bevor sie in verbesserter Form wieder automatisiert werden. Dies setzt jedoch voraus, dass der Lehrer – nach Möglichkeit unter qualifizierter Anleitung – selbst regelmäßig trainiert.

Der gute Schüler stattet den schuldigen Dank durch Vertrauen, Respekt und Lerneifer ab. Er fühlt sich verpflichtet, das ihm übergebene wertvolle Geschenk zu pflegen und an seine eigenen Schüler weiterzugeben, wenn die Zeit gekommen ist. So bleibt das Aikido eine über das Leben des einzelnen hinaus wirkende und sich ständig erneuernde Kraft.
Mit steigendem Grad mögen sich die aufgezeigten Wechselbeziehungen zwar ändern, abreißen dürfen sie jedoch niemals. Der Lehrer hat nicht selten über seinen Tod hinaus einen Platz im Herzen seiner guten Schüler; er lebt und wirkt gleichsam durch diese.
Wer seinen Lehrer nur als Vermittler handwerklicher Techniken ansieht und dessen Persönlichkeit negiert oder gar bekämpft, führt das wichtige Prinzip der Einheit zwischen Geist, Seele und Körper ad absurdum, kann die wahre Meisterschaft nie erreichen und folglich selbst kein bedeutender Lehrer werden.
Viele hochgraduierte Aikidoka stagnieren in ihrer Entwicklung oder mussten ihren hoffnungsvoll begonnenen Weg beenden, weil sie gegen die aufgezeigten Grundsätze verstießen oder nicht in der Lage waren, gleichzeitig dankbar nehmender Schüler und selbstlos gebender Lehrer zu sein.
Wachsendes Können muss sich in der anspruchsvollen Pflichterfüllung sowie einer stärkeren Selbstkontrolle äußern und darf niemals zur Ablehnung übergeordneter Autorität führen. Wer seine „Wurzeln" verleugnet und sich selbst zum Maß aller Dinge macht, wird zum Narzissten ohne geistige Ausstrahlung und kann seine objektive »Mitte« nicht finden. Bindungslosigkeit ist daher kein Kriterium der persönlichen Freiheit, sondern der Anfang vom Ende.



André Nocquet, 8. Dan Aikido und 4. Dan Judo, Präsident und Technischer Direktor der Europäischen Aikido-Union
war von 1955 bis 1957 direkter Schüler des Aikido-Begründers, O Sensei Morihei Ueshiba. Er war von 1971

bis zu seinem Tode im Jahre 1999 verehrter Lehrer des Verfassers und hat sich um die Verbreitung des Aikido
in Europa sehr verdient gemacht. Meister André Nocquet galt als einer der besten Interpreten des klassischen
Aikido und lebte die geistigen sowie moralischen Inhalte überzeugend vor. Er ist über seinen Tod hinaus ein
Vorbild für alle Aikidoka.




Gerd Wischnewski, 3. Dan Aikido, 2. Dan Kendo, 2. Dan Judo und 1. Dan Karate, wurde in Japan der »Samurai
mit den blauen Augen« genannt. Er war von 1963 bis 1965 direkter Schüler des Aikido-Begründers,
O Sensei Morihei Ueshiba. Meister Gerd Wischnewski hat sich um die Einführung des Aikido und Kendo
in Deutschland sehr verdient gemacht und war von 1966 bis 1971 geachteter Lehrer des Verfassers, bevor
er sich aus gesundheitlichen Gründen vom aktiven Sport zurückziehen musste.

   

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2.4

Der Weg des Aiki

 

Halte ein auf dem beschwerlichen
Weg und blicke um dich.
Wer immer auf den Boden schaut,
kann nicht die Sterne sehen!


Aikido zwingt zur Kooperation, denn das Erlernen der Elemente, Techniken und Prinzipien ist nur möglich, wenn mindestens zwei Menschen bereit sind, die ihnen wechselseitig zugeteilten Rollen des Nehmenden (Uke) und Gebenden (Nage) zum gemeinsamen Nutzen zu übernehmen. Diese Tatsache hat besondere Bedeutung und sollte daher immer betont werden.
Die beim ernsthaften Training und in allen Selbstverteidigungssituationen angestrebte Harmonie und Nächstenliebe fördern das gegenseitige Verständnis. Sie führen zum Abbau hemmender Schranken und neutralisieren zerstörerische Energien. Alle technischen Inhalte des Aikido und die Methoden ihrer Vermittlung dienen der Erreichung dieses Zieles.
In der ersten Stufe seiner Ausbildung setzt sich der junge Aikidoka schwerpunktmäßig und intensiv mit dem Studium der Elemente (Stand, Stellung, Position, Distanz, Schwerthand, Bewegung usw.) sowie dem Erforschen des statischen und dynamischen Gleichgewichtes auseinander. Er lernt die kontrollierte Nutzung bzw. Neutralisation jener Kräfte, die von seinem Körper ausgehen oder von außen auf ihn einwirken.
Diese Stufe ist von großer Bedeutung und erfordert die ungeteilte Aufmerksamkeit der besten Lehrer. Da die Elemente als grundlegende Bestandteile aller Techniken immer wiederkehren, potenziert sich der Grad ihrer Ausprägung. Sie sind somit ein (miss-)erfolgsbestimmender Faktor auf dem Weg zur Meisterschaft.
Gleichzeitig wird der ganze Körper des Ausübenden unter Beachtung des Grundsatzes der Beidseitigkeit auf die künftigen Anforderungen vorbereitet.
Es ist wichtig, ungeduldige Schüler und oberflächliche Lehrer immer wieder auf die Bedeutung der Elemente für den Fortschritt hinzuweisen, damit sie auch in der Folgezeit alle Anstrengungen auf sich nehmen, die zu deren Erhaltung und Verbesserung förderlich sind.
Die zweite Stufe beginnt mit dem handwerklichen Erlernen der Aikido-Grundtechniken im Stand und am Boden. Ausgangspunkt ist die von einem unbewaffneten Angreifer initiierte, zunächst noch vorherbestimmte und auf Nage wirkende Kraft.
Da die Angriffe zunehmend rasanter und die Verteidigungstechniken immer diffiziler werden, steigen die Anforderungen an den Ausübenden mit zunehmender Reife auf natürliche Weise. Der gute Lehrer führt seine Schüler hier auch behutsam in jene besonderen Übungsformen ein, die eher dem Vermögen der Meister angemessen wären. So können die Aikidoka ab 3. Kyu (grüner Gürtel) bereits Teile der „Form der Katame-Waza und ihrer Prinzipien im Stand" praktizieren und als Vorstufe des Randori bzw. Jiyu-Waza festgelegte Angriffe mit den ihnen bekannten Techniken frei abwehren.
Aikido wird mit dem eigenen Körper sowie in Gemeinschaft mit einem Lehrer und vielen Partnern auf der Matte studiert und erfahren. Diese fundamentale Tatsache sollte jenen Lernenden immer wieder vor Augen geführt werden, die Erbauung und Fortschritt vorwiegend in den geistigen Bereichen suchen. Sie verstehen die Prinzipien und Inhalte vielleicht rational, werden sie aber niemals intuitiv und im rechten Augenblick anwenden können. Glauben sie gar, aus ihrem theoretischen Wissen einen aikidospezifischen Lehr- oder Führungsauftrag ableiten zu müssen, ist ihnen der Misserfolg ebenso sicher, wie der – vielleicht nachsichtig verborgene – Spott aller praktizierenden Aikidoka.
Wenn der Ausübende bei gutem Gleichgewicht verzögerungsfrei und in der situationsbedingt zweckmäßigen – ergänzenden – Weise (Irimi oder Tenkan) auf alle Angriffe reagiert und das Unterbewusstsein zur Aufnahme der wertvollen Inhalte des Aikido bereit ist, kann die dritte Stufe der Entwicklung beginnen. Hier müssen die Elemente und Techniken des Aikido ständig gepflegt und verbessert werden. Gleichzeitig wird sich der Meister aber auch anderen Formen zuwenden, die seinem Können angemessen sind und ihn neu fordern. Dazu zählen z.B. die gegen bewaffnete Angreifer angewandten Grundtechniken (Veränderung der Distanz und Konzentration beziehungsweise Verstärkung der wirkenden Kraft durch die Waffe), reaktions- und konditionsfördernde Übungen mit mehreren Partnern oder die Abwehr von Angriffen aus dem für Europäer ungewohnten Kniesitz (Hanmi-hantachi, Suwari-Waza). Aber auch das weiterführende Studium der anderen beiden Säulen des Aikido darf nicht vernachlässigt werden: das Jiyu-Waza gegen einen oder mehrere – auch bewaffnete – Angreifer als Form der Spontaneität und Ausdruck der Freiheit sowie die Kata als Formen der Rückbesinnung und Bindung an das von O Sensei Morihei Ueshiba geschaffene klassische Aikido.
Nur die ständige und gelöste Wiederholung aller Techniken und Formen des Aikido garantiert den Fortschritt des Ausübenden. Dieser geht schon bald im absichtslosen Tun auf und vergisst die Anforderungen sowie Zwänge der leistungsorientierten und kampfbejahenden Umwelt; er wird wieder zum selbstlosen Teil eines universalen harmonischen Systems, das ihn fördert und schützt.
Das Aikido hat nun meditativen Charakter, und aus dem Handwerk (Jutsu) entwickelt sich der Weg (Do).
Durch die über viele Jahre betriebene körperliche Übung wurden die im Aikido verborgenen positiven Kräfte frei. Sie sind tief in das Unterbewusstsein des Ausübenden eingedrungen und wirken in ihm und durch ihn auf alle Bereiche seines Lebens.
Der Ausübende hat aber auch zu sich selbst gefunden und vermag seinen eigenen Standort zu bestimmen. Er besitzt in jeder Situation die Freiheit der Entscheidung und des Handelns. Dies führt nicht nur zur inneren Stabilität und Ausgeglichenheit, sondern ermöglicht auch die friedliche Bewältigung aller Konflikte, die in den durch menschliche Aktivitäten und Schwächen erzeugten Spannungsfeldern immer wieder auftreten.
Das anfänglich vielleicht oberflächlich als Kunst der Selbstverteidigung betriebene Aikido entwickelt sich zu einer vollkommenen Lebensform und spezifischen Geisteshaltung, die das Bewusstsein des Ausübenden vertieft und ihm neue Dimensionen des Seins erschließt.
Ein guter Meister weiß, dass man dem aufgezeigten Ziel unermüdlich zustreben muss, obwohl es nie ganz erreicht werden kann. Die Niederlagen auf seinem Weg dürfen ihn ebenso wenig hemmen wie Enttäuschungen, Missgunst und Undankbarkeit. Auch nach einem Fall darf er nicht aufgeben, sondern muss sich wieder erheben und seinen Weg fortsetzen.
Wer Aikido auf dieser höchsten Stufe betreibt, befindet sich in Harmonie mit dem Universum als Heimat des Lebens, Quelle nie versiegender Kraft und Symbol der ständigen Erneuerung. Er bejaht seine Natürlichkeit, wirkt aus einer starken – da gesicherten – Mitte und lebt in Frieden mit allen Menschen. In seinen guten Schülern potenziert sich die wertvolle Idee des Aikido und wird über den eigenen Weg hinaus erhalten – zum Nutzen kommender Generationen.

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2.5

Die »rechte Mitte«

 

Wer andere Menschen führen will,
muss erst seine Mitte gefunden haben!


An vielen Stellen dieses Buches wird im Zusammenhang mit den geistigen und technischen Inhalten des Aikido auf die »rechte Mitte« hingewiesen, so dass eine Erklärung dieses auch für andere Lebensbereiche wichtigen Zustandes geboten erscheint.
Alle Überlegungen basieren auf dem Glauben an eine kosmische Harmonie, die Ausdruck der ordnenden geistigen Kraft (Ki) des absoluten und universell gültigen Prinzips oder des Schöpferwillens ist. Sie manifestiert sich in der Dynamik des Kosmos sowie seinen zyklischen Strukturen und dauerndem Wechsel.
Ferner besteht Übereinstimmung in der Auffassung, dass der Mensch als Teil der Natur ihren Gesetzen ohne Einschränkung unterworfen ist. Er kann folglich nur glücklich sein, wenn er in allen Bereichen der natürlichen Ordnung folgt, dem intuitiven Wissen vertraut und spontan handelt.
Unter dem Begriff »rechte Mitte« versteht man im objektiven Sinne einen Gleichgewichtszustand zwischen Himmel und Erde, Geist und Körper, Ruhe und Bewegung, Stärke und Schwäche, Spannung und Entspannung, Fülle und Leere.
Im subjektiven Sinne ist es die Position – körperlicher Standort oder geistiger Standpunkt  –, die der einzelne im Verhältnis zu anderen Menschen oder seiner Umwelt einnehmen soll, um die natürliche Harmonie zu erhalten und zu fördern.




O Sensei Morihei Ueshiba, Begründer des Aikido, und sein Schüler André Nocquet.


Bezogen auf das Aikidotraining sind unter dem Begriff »rechte Mitte« immer ein im stabilen Gleichgewicht befindliches Körperzentrum (Hara) sowie die harmonische Distanz (Ma-ai) zum Angreifer zu verstehen, die den Einsatz der Atemkraft (Kokyu) überhaupt erst möglich machen (vergleiche Kapitel 4 – Elemente des Aikido).
Beim Verlust der körperlichen »rechten Mitte« stürzt der Aikidoka entweder, oder seine Technik bleibt unwirksam. Erfahrung und Einsicht werden ihn sich folglich ständig um die Schulung und den sinnvollen Gebrauch seines Zentrums (Hara) bemühen lassen.
Ausdruck des »gestörten Gleichgewichtes« in allen Lebensbereichen des modernen Menschen sind ziellose Hetze, innere Unruhe und die ständige Furcht, eine unbestimmte Chance zu versäumen. Die damit verbundene Lebenseinstellung verursacht geistig-seelische Verspannungen sowie körperliche Schutz- und Abwehrhaltungen. Die Betroffenen selbst machen meist »äußere Kräfte« für ihr »unabänderliches Schicksal« verantwortlich und wollen diese dann durch den Einsatz aller verfügbaren Mittel nach ihren Vorstellungen verändern. Dabei übersehen sie, dass die »rechte Mitte« durch eine oft geringfügige Veränderung der eigenen Position/Einstellung leicht wieder eingenommen werden könnte.
Dieser einfache Akt der Selbstbefreiung befähigt den Menschen dann, auch starke, aus unterschiedlicher Richtung wirkende »äußere Kräfte« sicher aufzunehmen oder zu kanalisieren. Er wird selbst nicht durch sie bewegt und bleibt beweglich.
Fortgeschrittene Aikidoka trainieren auch unter erschwerten Bedingungen. Sie gewinnen dadurch vorzüglich Sicherheit im Umgang mit der »belasteten und bewegten Mitte«, erfahren die Möglichkeiten und Grenzen ihres spontanen Einsatzes im günstigen Augenblick, verlieren die Angst vor dem Fall – einem Symbol der Niederlage oder des Versagens – und stellen dadurch auch die geistigen oder körperlichen Kräfte frei, die bisher auf das Ego konzentriert waren. Der Aikidoka gewinnt ein hohes Maß an Freiheit und Lebensfreude!
Die Wahrung der »rechten Mitte« setzt ein ständiges Reagieren auf die wechselnden inneren und äußeren Kräfte voraus. Der bedeutsame Punkt ist jedoch nicht markiert, weswegen theoretische Überlegungen und rationale Bemühungen lediglich das Ziel aufzeigen. Die zur intuitiven Umsetzung der Erkenntnisse notwendigen Erfahrungen können nur durch den ausdauernden handwerklichen Vollzug der Aikidotechniken gesammelt werden.
Der auf Seite 32 symbolisch dargestellte Eingangswurf (Irimi-Nage) erweckt deutlich den Eindruck eines Kreuzes als Symbol der inneren (lotrechter Balken) und äußeren (waagerechter Balken) Harmonie. Die Körpermitte (Hara) des Aikido-Begründers und der durch die Balanceberechnung (Kuzushi) verlagerte Schwerpunkt des Angreifers befinden sich im Schnittpunkt des Kreuzes, also in der »rechten Mitte«, was bedeutet:
Die ursprünglichen Gegensätze sind aufgehoben; der Verteidiger (Nage) kann den Angreifer (Uke) mit seiner Ki körperlich und geistig führen.

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