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Stufe um Stufe
Der Weg des Aiki zwingt die Ausübenden zur Kooperation, denn das erfolgreiche Studium der Elemente, Techniken und Prinzipien ist nur möglich, wenn mindestens zwei Menschen bereit sind, die ihnen wechselseitig zugeteilten Rollen des Uke („Nehmenden") und Nage („Gebenden") zum gemeinsamen Nutzen zu übernehmen. Diese Tatsache soll einleitend betont werden, weil sie von besonderer Bedeutung ist.
Die beim ernsthaften und ausdauernden Training zur Vermeidung von Verletzungen ständig gebotene Rücksichtnahme sowie die zunehmend verinnerlichte Harmonie fördern das gegenseitige Verständnis. Sie führen aber auch zum Abbau von Angst und Hemmungen und neutralisieren zerstörerische Energien. Der Aikidoka (Ausübende) wird sich als Ausfluss der gewonnenen Selbstsicherheit und inneren Stärke bald auch in realen Selbstverteidigungssituationen zurücknehmen und auf alle Angriffe verhältnismäßig reagieren.
Alle Erziehungs- und Ausbildungsinhalte des Aikido sowie die Methoden ihrer Vermittlung dienen hauptsächlich der Erreichung dieses Zieles.
In der ersten Phase seiner Ausbildung muss sich der Aikidoka schwerpunktmäßig und ausdauernd mit den Elementen (Stand, Stellung, Position, Distanz, Tegatana, Sabaki usw.) sowie dem Studium des statischen und dynamischen Gleichgewichts befassen. Dabei lernt er Verfahren zur Aufnahme, Umlenkung, Zerteilung und Fokussierung von Kräften kennen, die durch vorgegebene oder spontane Aktionen des Angreifers auf seinen Körper einwirken oder im Zusammenhang mit der Verteidigung von ihm ausgehen.
Diese Stufe der Selbsterfahrung und -kontrolle ist von großer Bedeutung und erfordert die ungeteilte Aufmerksamkeit des Lehrers. Da die Elemente wichtige „Bausteine" aller Techniken sind, potenziert sich der Grad ihrer Ausprägung und Verinnerlichung ebenso, wie die etwa vorhandenen Mängel. Die sichere Beherrschung der Elemente ist somit ein überaus wichtiger Faktor auf dem Wege zur Meisterschaft. Mangelnder Fleiß und fehlende Ausdauer dürfen nicht hingenommen werden. Festgestellte Mängel sind unverzüglich zu beheben.
In dieser Ausbildungsphase prüft der Lehrer auch die Zielstrebigkeit, Geduld und Ausdauer des Wegschülers. Sein ganzer Körper wird unter Beachtung der künftigen Anforderungen nach dem Grundsatz der Beidseitigkeit auf die nächste Stufe vorbereitet.
Es ist wichtig, ungeduldige Schüler - aber auch oberflächliche Lehrer - immer wieder auf die Bedeutung der Elemente hinzuweisen, damit sie auch in der Folgezeit alle Anstrengungen unternehmen, die ihrer Erhaltung und qualitativen Verbesserung und somit dem Fortschritt dienen.
Die zweite Phase beginnt mit dem handwerklichen Erlernen der Aikido-Grundtechniken im Stand und am Boden. Ausbildungsgrundlage ist der von einem unbewaffneten Uke vorgetragene und zunächst noch festgelegte Angriff.
Da die Angriffe zunehmend rasanter und die Verteidigungstechniken immer komplexer werden, steigen die Anforderungen an den Ausübenden mit seiner zunehmenden Reife auf natürliche Weise.
Der weitsichtige Lehrer führt die Schüler in diesem Stadium auch behutsam in jene Ausbildungsinhalte ein, die nach der Prüfungsordnung dem Vermögen der Meister zugewiesen sind. So können Aikidoka ab 3. Kyu - ggf. in Teilen - bereits die erste Kata im Stand praktizieren und als Vorstufe des Randori vorgegebene Angriffe mit den ihnen bekannten Techniken frei abwehren.
Aikido wird - im wahrsten Sinne - mit dem eigenen Körper sowie in Gemeinschaft mit einem Lehrer und vielen Partnern auf der Matte begriffen. Diese Tatsache sollte besonders jenen Ausübenden immer wieder klar gemacht werden, die Erbauung und Fortschritt vorwiegend in den theoretischen und philosophischen Bereichen des Aikido suchen. Sie können die Elemente, Techniken und Prinzipien des Aikido vielleicht rational erklären, werden sie aber niemals praktizieren können. Glauben sie gar, aus ihrem theoretischen Wissen einen aikidospezifischen Lehr- oder Führungsauftrag ableiten zu müssen, ist ihnen der Misserfolg ebenso sicher wie der - vielleicht nachsichtig verborgene - Spott aller ernsthaften Aikidoka.
Wenn der Ausübende bei gutem Gleichgewicht verzögerungsfrei und nach dem situationsbedingt zweckmäßigen Aikidoprinzip auf die Angriffe reagiert und sein Unterbewusstsein zur vorurteilsfreien Aufnahme der kodierten Inhalte des Aikido bereit ist, kann die dritte Phase seiner Entwicklung beginnen.
Hier müssen die Elemente und Techniken des Aikido vermittelt, trainiert und verbessert werden. Gleichzeitig soll sich der Meister aber auch jenen Techniken und Formen zuwenden, die dem Vermögen des Wegschülers angemessen sind und ihn neu fordern und formen.
Dazu gehören beispielsweise alle Aikidotechniken zur Abwehr von Angriffen mit Waffen, reaktions- und konditionsfördernde Übungen mit mehreren Partnern oder die Abwehr von Angriffen aus dem - zumindest für Europäer - ungewohnten Kniesitz (Hanmi-hantachi, Suwari-waza). Die damit verbundenen höheren körperlichen und technischen Anforderungen zwingen den Aikidoka zur neuen Prüfung und ggf. Anpassung der in den bisherigen Ausbildungsphasen bereits verinnerlichten (automatisierten) Elemente, Techniken und Prinzipien des Aikido.
Aber auch das Studium der anderen beiden - gleichberechtigten - Säulen des Aikido darf nicht vernachlässigt werden. Gemeint sind das Randori gegen einen oder mehrere - auch bewaffnete - Angreifer als Form der Spontaneität und Ausdruck der Freiheit sowie die Aiki-no-Kata als Form der Rückbesinnung und Bindung an das von O Sensei Morihei Ueshiba geschaffene und damit klassische Aikido.
Nur das lebenslange Studium des Aikido sowie die damit verbundene Pflege und Wiederholung aller Formen und ihrer Varianten auf steigendem Niveau, aber auch die ständige Rückbesinnung auf die „Quellen" garantiert den technischen Fortschritt des Ausübenden und seine damit einhergehende persönliche Entwicklung in Sinne des Aikido.
Der fortgeschrittene Aikidoka wird ein selbstloser und integrierter Teil des Aikido. Durch seine geistig-seelischen und körperlichen Aktivitäten entfalten sich die wertprägenden Inhalte des „Weges zur Harmonisierung der geistigen Kraft". Sie können so auf andere Menschen und ihre Gemeinschaften wirken. Der Aikidoka ist ein Meister seines Weges, der den Anforderungen und Zwängen der leistungsorientierten Gesellschaft gerecht wird. Aus dem Handwerk (Jutsu) hat sich ein Weg (Do) entwickelt.
Durch die vieljährige körperliche Übung wurden die im „technischen" Aikido verborgenen Inhalte frei. Sie sind tief in das Unterbewusstsein des Ausübenden eingedrungen und wirken durch ihn auf alle Bereiche seines Lebens.
Der Meister hat aber auch zu sich selbst gefunden und ist in der Lage, seinen eigenen Standpunkt bzw. Standort zu bestimmen. Er besitzt in jeder Situation die Freiheit der Entscheidung und des Handelns.
Dies führt nicht nur zur inneren Stabilität und Ausgeglichenheit, sondern ermöglicht auch die friedliche Bewältigung der Konflikte, die in den durch menschliche Aktivitäten und Schwächen erzeugten Spannungsfeldern immer wieder auftreten.
Das anfänglich vielleicht oberflächlich als Kunst der Selbstverteidigung betriebene Aikido hat sich zu einer vollkommenen Lebensform und wertvollen Geisteshaltung entwickelt, die das Bewusstsein des Ausübenden vertieft und ihm neue Dimensionen des Seins erschließt.
Der Meister weiß aber auch, dass man dem aufgezeigten Ziel unermüdlich zustreben muss, obwohl es von Menschen nie ganz erreicht werden kann. Die Niederlagen auf seinem Weg dürfen ihn eben so wenig hemmen, wie Neid, Missgunst und Undankbarkeit. Auch nach einem Fall darf er nicht aufgeben, sondern muss sich wieder erheben und weitergehen.
Wer Aikido auf dieser Stufe praktiziert, lebt im Einklang mit natürlichen Gesetzmäßigkeiten und in Frieden mit allen Menschen. Er dient einer lebendigen, wertprägenden Kunst und baut mit am Gebäude der Humanität!
© Rolf Brand, 8. Dan Aikido
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